Radeln ohne Regeln

Unter dem o.g. Titel schreibt CHRISTOPH STOLLOWSKY im Berliner TAGESSPIEGEL über radfahrende Verkehrsrowdies und schreibt rhetorisch:

„Vor allem genervte Fußgänger fordern deshalb, Räder müssten wie Autos ein Kennzeichen tragen – damit Rowdys belangt werden können. “

Im weiteren Verlauf des Artikels berichtet STOLLOWSKY über derartige Überlegungen bei der Berliner Polizei und verweist auf Schweizer Beispiele, relativiert aber im nächsten Absatz solche Vorschläge als nicht durchführbar.

Im weiteren Verlauf zitiert STOLLOWSKY auch Parlamentarier und schließt mit der Nachricht, dass die Berliner Polizei auf mehr Kontrollen setzt und dass jeder “ vierte Verletzte im Berliner Verkehr“ ein Radfahrer war.

Ich finde diesen Artikel tendenziös.

Schon die Überschrift legt nahe, dass es ein Problem mit Radfahrern gibt, was überhand nimmt, nämlich dass es fürs Radfahren keine Regeln gibt.
Ist das überhaupt das Problem?
Wieviel Radfahrer sind denn überhaupt betroffen? Alle? Ein großer Teil, Eine Minderheit? Die Hälfte?

Zitat:
„216 Passanten wurden in Berlin laut Polizei in diesem Jahr schon bei Unfällen mit Radfahrern verletzt, meist durch Zusammenstöße; insgesamt waren Radler seit Januar an 2583 Unfällen beteiligt, bei jedem zweiten gelten sie zumindest als Mitverursacher.“

Aha. 216 Fußgänger. Sind 216 zuviel, muss ich mal sagen.

Nehmen wir mal aussagekräftige Zahlen, also die von einem ganzen Jahr. Die Verkehrsopferbilanz 2006 der Berliner Polizei bietet umfangreiches Zahlenmaterial. welches nicht so leicht zu durchschauen ist.
Als Erstes läßt sich mal klar feststellen, dass nicht unterschieden wird, von wem Fußgänger verletzt worden sind. Im gesamten Jahr 2006 sind 2.551 Fußgänger bei Verkehrsunfällen verletzt worden, an 1.457 waren die Fußgänger Hauptverursacher.

Die Relation steht in keinem Zusammenhang mit der jetzigen Aussage. Man kann noch nicht einmal ableiten, ob die Unfälle von Radfahrern gegenüber Fußgängern zugenommen haben.

Im gesamten Jahr 2006 gab es 6504 Unfälle mit Radfahrerbeteiligung, an 3760 waren Radfahrer Verursacher oder Mitverursacher.
Bei diesen Unfällen sind 4002 Radfahrer leichtverletzt, 512 schwerverletzt und 9 getötet worden.

Weil man ja nicht weiss, wieviel Fußgänger 2006 von Radfahren verletzt worden sind, ist die Bezeichnung „schon“ tendenziös – sie legt nahe, dass es viel mehr sind als 2006 im Vergleichszeitraum, wenn es denn einen gäbe.

Der zweite Teil des o.g. Absatzes ist auch wertend: Im Umkehrschluß heisst das ja, dass jeder Zweite Radfahrer an dem Unfall unschuldig ist. Das ist eine positive Aussage, während die Überschrift, der erste Absatz und die Reihenfolge der Aussagen nahe legt, dass alle oder die Mehrheit der Radfahrer Rowdies sind.

Noch eine Zahl aus der Verkehrsopferbilanz, hier bewusst wertend, tendenziös, subjektiv und voreingenommen aus dem Zusammenhang gerissen:

An über 77% aller Verkehrsunfälle waren PKWs beteiligt.
An 3,56% aller Verkehrsunfälle waren Radfahrer beteiligt.

Die ganzen Torten:

Auch die Kommentare des Artikel deuten daraufhin, dass die Radfahrer an allem Schuld sind und vor allem in Gemeinhaftung genommen werden.
Dies ist keine Diskussion, das ist Demagogie.
Eine sachliche Auseinandersetzung muss von den Eliten geführt werden. Nur so können weitere Tote und Verletzte im Strassenverkehr verhindert werden. Wozu haben wir denn die ganzen studierten Köpfe in der Verkehrsverwaltung?

Radfahrer gehören auf die Strasse, der Autoverkehr muss um die Hälfte reduziert werden und die Kapazität der ÖPNV muss verdoppelt werden, dass sind Erkenntnisse, die 20 Jahre und älter sind.

Es geht einfach nicht an, dass dem Autoverkehr motorisiertem Individualverkehr, der den größten volkswirtschaftlichen Schaden durch Unfälle verursacht, negative Umweltbilanzen aufweisst, die Lebensqualität entlang der Verkehrswege drastisch senkt, die meisten öffentlichen Mittel für Strassen- und Wegebau verschlingt, soviel Aufmerksamkeit, Mittel und Vorrang eingeräumt wird.

Und noch etwas: In dem Kommentaren kam auch mal zur Sprache, dass Radfahrer nicht versichert seien:
Als ADFC-Mitglied ist man als Radfahrer, Fußgänger und Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel automatisch haftpflichtversichert.

Ist natürlich keine Pflichtmitgliedschaft wie bei der Kfz-Haftpflicht.

Links:
Radwegbenutzungspflicht (Polizei Berlin)
Toter Winkel (Polizei Berlin)
Schulkinder als Radfahrer (Polizei Berlin)
Gesamtstatistik Radfahrunfälle (Polizei Berlin)
Radfahren in Berlin (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung)
Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club (ADFC Berlin)
Radzeit.pdf (Zeitschrift des ADFC – Ausgabe 01/07 mit Beiträgen zu Radwegebenutzungspflicht und einem Interview mit dem ADAC)
Abschaffung der Radwegebenutzungspflicht (Petitionsausschuss Deutscher Bundestag)
Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO)
Radweg (Wikipedia)
Fahrrad (Wikipedia)

Meine Serie „Fahrradfahren in Berlin“:

Fahrradfahrer werden im Berliner Straßenverkehr benachteiligt, weil
– sie sich den Platz auf dem Bürgersteig mit dem Fußgänger teilen müssen (Fahrradfahren in Berlin – Folge 1),
– die Sicherheitsabstände nicht eingehalten werden, (Fahrradfahren in Berlin – Folge 2),
– die Verkehrsführung umständlich ist, (Fahrradfahren in Berlin – Folge 3),
– sie nicht als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer gesehen werden, (Fahrradfahren in Berlin – Folge 4),
– viele Radfahrer die Verkehrsregeln nicht beachten. (Fahrradfahren in Berlin – Folge 5).

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