100 Jahre Schulfarm Insel Scharfenberg

Beitrag für die Festschrift:

Durch die Jahre in einem Jahr
„Die Prähistorie müßte weiter berichten, wie die Mitglieder dieser Schülervereine als Träger des Schulgemeindegedankens an ihrer Anstalt mit dreien ihrer Lehrer als selbstgewählten Führern ein Waldarbeiterhaus im Stolper Forst zu einem ‚Schulgemeindeheim‘ mit kleiner Feldwirtschaft umgewandelt haben; wie aus dem Zusammenhausen da draußen an Sonnabenden und Sonntagen, das die Jungen nach den schwächenden Einflüssen der Kriegszeit gesundheitlich ungemein förderte und gleichzeitig der Schülerselbstverwaltung auf einem neutralen Boden ganz andere Aufgaben zu stellen vermochte als Pausenaufsicht und Sprechsaalpolitik, bei den beteiligten Lehrern der Entschluß entstand, den ganzen Sommer über – auch in der Schulzeit – mit den Schülern außerhalb der Großstadt zu leben und dann selbstverständlich den Unterricht mit in die Natur zu nehmen.”
Wilhelm Blume, Die Schulfarm auf der stätdischen Insel Scharfenberg bei Berlin,
Berlin 1924, S. 313ff in Deutsche Schulversuche, Hrsg. Franz Hilker, Berlin 1924

Das ist fast ein Kernsatz der Gründung der Schulfarm Insel Scharfenberg nach Wilhelm Blume, welcher in ähnlicher Form sich bei vielen anderen Reformschulen wiederfindet. Dazu kommt noch die unausgesprochene Not der Schüler, deren Väter und Ernährer im 1. Weltkrieg geblieben sind. Für viele, auch traumatisierte Schüler ergab diese Form der Schule, etwas zu essen zu bekommen, eine Chance zum Überleben. Die Selbstversorgung klappte noch nicht ganz. viele Eltern gaben ihren Kindern auch etwas zu essen mit, meist auch ungesunde Sachen. Dies hatte zur Folge, dass regelmäßig Spind-Kontrollen durchgeführt wurden, um die verwesenden Lebensmittel zu entfernen. Gartenbau und Landwirtschaft auf der Insel waren ‚überlebens-notwendig‘. So war die Motivation der Schüler bis in die 60er sehr hoch, viele Lebensmittel zu produzieren.
Als Starthilfe findet sich im Archiv eine Vertrag zwischen Blume und Borsig, der 3 Millionen Reichsmark gab für die Anschaffung von Werkzeugen, Geräten, Sämereien und Düngemittel, mit der Bedingung, dass die Schulfarm mindestens 3 Jahre existiert. Bis 1927 erhielt die Schule keinerlei staatliche Zuschüsse.
Heute ist die Not eine andere. Eine unsichtbare wie der Hunger zwar, aber ganz anders. Niemand muss Not leiden, für die meisten Schüler gab es noch nie ein Krieg, den sie selbst erlebt haben. Das Streben nach Anerkennung, nach Aufmerksamkeit, nach Singularität in einer Massengesellschaft verlangt einen anderen Einsatz als der im Garten. Mit Gärtnerei ist da wenig Staat zu machen. Die Ziele der Gärtnerei sind heute die zusätzliche Haptisierung abstrakter Unterrichtsinhalte aus dem naturwissenschaftlichen Bereich. So sollen die Schülerinnen und Schüler (SuS) an den Hintergrund unserer Nahrungsmittelproduktion herangeführt werden. Sie erkennen Sortenvielfalt, sie erkennen den mechanischen Aufwand, der in dem heranziehen, pflegen, ernten und verarbeiten von Obst und Gemüse steckt, sie sehen wie hoch der Anteil von ‚1A‘-Gemüse an einer Ernte ist und wie einfach es sein kann, eine ausgeglichene Mahlzeit herzustellen.
Zusätzlich werden noch Unterrichtsinhalte aus der Genetik, der Zytologie, der Ökologie praktisch dargestellt. Dazu kommen fächerübergreifende Themen wie Natur- und Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Des Gärtners Thema ist die Erhaltung von seltenen und alten Nutzpflanzensorten und die Darstellung der Sortenvielfalt.

In der Folge sind (tw. gekürzte) Tagebucheinträge aus verschiedenen Jahren zitiert.

Januar-Februar 1952
Als wir Anfang Januar wieder aus den Ferien zurückkehrten, waren Notstandsarbeiter dabei, die Grube für das neue Gewächshaus auszuheben. (heute, Anfang März, sind die Ränder längst eingefallen) Sie schichteten auch die Steine in Haufen ums Gewächshaus herum. So blieb es die ganze Zeit hindurch. Da es draußen sehr kalt war, arbeiteten wir im Bienenhaus. Der „Goldrausch“ wurde in drei Sorten nach der Farbe eingeteilt und dann geraspelt. Das taten wir zum Teil mit der Hand und zum Teil mit der Maschine. Wir unterschieden zwei Gruppen von Körnern: 1.) Die Körner der Spitzen und von ganz unten, die zu Futterzwecken verwendet werden sollen und 2.) Die Mittelkörner, die Saatgut sind. Die Bastarde zwischen „Goldrausch“ und „Platina“ legten wir beiseite. Der gesamte Goldrausch, der auf dem Bienenhausboden getrocknet war, wurde im Januar abgeraspelt. Im Februar gingen wir an den Reismais. Bei ihm verfuhren wir genauso wie beim „Goldrausch“. Die Landwirte unterstützten uns bei der Arbeit.
Da wir in diesem Frühjahr kein Gewächshaus haben und die Mistbeetkästen abgerissen waren, mußten wir notdürftig Kästen aufstellen. Die Fenster dazu mußten wiederhergestellt werden. Wo der Kitt brüchig war, wurde er entfernt und durch neuen ersetzt. Einem großen Teil der Fenster mußten neue Scheiben eingesetzt werden. Griffe und, wo es nötig war, Ecken wurden angeschraubt. Zum Schluß erhielten sie eine Anstrich mit Ölfarbe von den Malern.
(…)
Die Karnickel fanden Geschmack an den Rinden der Bäume. Deshalb wurden die jungen Apfelbäume mit einem Rohrgürtel ( ~ 0,5 m hoch) geschützt. Um das Pfirsichquartier zogen wir einen Draht in 30 cm Höhe, der mit Heubündeln alle 1,5 m behängt war. Die Heubündel waren mit einem Stinkzeug *Carnitol getränkt, welches die Karnickel abschreckt. Sie hatten die alten Kernobstbäume sehr stark befressen, so daß wir 7 Birnbäume rauswerfen mussten.
Nicht bloß die Obstbäume wurden angefressen, sondern auch die Zirbelkiefern und Tränenkiefern. Bei den Zirbelkiefern blieb nur noch die Spitze stehen. Noch schlimmer mißhandelten sie die Japanische Schirmtanne, der sie wegen der geringen Größe gar keine Nadeln ließen. Auch der Gingko* Ginkgo wurde nicht verschont, eine große Knospe blieb ihm erhalten. (* Korrekturen im Text)

06.03.2021 Aussentemperatur -5,3°C; Innentemp. 16,3°C.
Ich säe den zweiten Satz Tomaten aus:
‚Gelbe Wildtomate‘, ‚Gelbes Birnchen‘, ‚Golden Bumble‘, ‚Golden Currant‘, ‚Great White‘, ‚Green doc‘, ‚Greendoc‘, ‚Green Pear‘, ‚Grüne Ananas‘, ‚Harzfeuer‘, ‚Haubners Vollendung‘, ‚Herzlich‘, ‚Huberts Beste‘, ‚Humboldtii‘ ‚Humboltii‘, ‚Indigo Kumquat‘, ‚Kakao‘, ‚Karkos 465‘ ‚Mega Zac‘, ‚Karkos 547‘ ‚Mega Zac‘, ‚Karkos 566‘ ‚Mega Zac‘ ‚Karkos 622‘, ‚Kasachstan Grüne‘, ‚Kasachstan güne Flasche‘, ‚Königin der Frühen‘, ‚Liguria‘ (Fleischtomate), ‚Lila-Rote Tomate‘, ‚Lillit‘, ‚Malinowy‘, ‚Mandarin‘ Fleischtomate, ‚Marglobe‘, ‚Marmande‘ (Fleischtomate), ‚Marrokkanische Flasche‘ Marokkanische Flaschentomate Stabtomate‘, ‚Merinda‘, ‚Mexikanische Honigtomate‘, ‚Moneymaker‘, ‚Nugget‘, ‚Ochsenherz gelb-rot‘, ‚Ochsenherz‘, ‚Olena Ukrainian‘, ‚Orange Birne‘, ‚Orange Dattel‘, ‚Orange Fleischtomate Ananas‘, ‚Orangenbusch‘, ‚Oxheart (Ochsenherz)‘, ‚Oziris‘, ‚Paul Robeson‘, ‚Peters Süße‘, ‚Philamina‘ ‚Philomena‘ ‚Tomato for future‘, ‚Pineapple Fog‘, ‚Pink Tiger‘, ‚Red Cavern‘, ‚Reisetomate‘, ‚Riesentomate Türkei‘, ‚Roma VF‘ F1, ‚Roma‘, ‚Rot GROß‘, ‚Rote Birne‘, ‚Rote Cherry‘, ‚Roter Pfirsich‘, ‚Ruth‘, ‚Saint Pierre‘, ‚St. Pierre‘, ‚Shimmeig Creg‘, ‚Silbertanne‘ ‘Silvery Fir Tree‘, ‚Smaragdapfel‘, ‚Süße von der Krim‘, ‚Sweet Cherry‘, ‚Tasty Tom‘, ‚Taylor Lacy‘, ‚Taylor Lacey Leaf‘, ‚Timenta‘, ‚Triverta‘ (‚Tiverta‘), ‚Wagner Mirabell Rosa‘, ‚Weiße Schönheit‘ Stabtomate‘, ‚Yellow Riffelt‘, ‚Zahnradtomate‘, ‚Ziegenhorn‘, ‚Malachitschatulle‘, ‚Gogoschar gestreift‘, ‚Schwarzer Elefant‘. Insgesamt sagt die Datenbank 122 Sorten. Mal sehen, was keimt und überlebt.

Mitte Juni 1923
Heute um 2 Uhr können sich freiwillige Kirschpflücker bei Ludwig Schmidt melden – so die Verkündigung beim Mittagessen. Großartig! Das ist doch mal etwas Anderes, Neues für einen eben erst der Großstadt Entrückten. Beim Glockenschlag um 2 Uhr im Galopp zu der Ziegenweide zum Haus und in die Küche. Kein Eimer mehr aufzutreiben. Also zum Notbehelf erst einmal zu einer Schüssel gegriffen und draußen auf dem Mittelweg auf den Wagen gesprungen. Wie aber nun der Eimerkalamität abhelfen? An allen möglichen und unmöglichen Orten wird nach Eimern gefahndet. Schließlich sind genug Eimer zusammen aber erst nachdem Blume selbst tatkräftig eingegriffen hat und noch einige Eimer aus der Speisekammer geholt hat. (…) Beim ersten Mal, wo man so mitten in den Kirschen sitzt, dringt sich so langsam die Erkenntnis durch, daß das meiste ins Gefäß gehört, da der Ertrag der Beute ja der ganzen Gemeinschaft zugute kommt und nicht nur dem Einzelnen: es wird aber noch ziemlich viel gefuttert.
Noch während des Pflückens kommt Blume: ein Käufer ist eingetroffen. Die Eimer werden entleert und wir sind stolz, daß wir schon Geld für die Gemeinschaft einnehmen. (…) Das Ergebnis des Tages: Ein großer Waschkorb voll Kirschen. Und so gehen wir, jeder sehr zufrieden mit sich, nach Hause.
P. Grotjahn

27.07.2017: Arbeitsaufnahme auf ehrenamtlicher Basis: Beseitigung von Wildkraut in den Schülerbeeten am Gärtnerhaus, Sortieren von Werkzeugen, Inselrundgang, Aufstellen von Regnern, Reparatur von Wasserschläuchen, Werkzeugsuche.
T. Lamp

Freitag, 13.5.49: Milo suchte aus dem Mistbeet Porreepflanzen, die morgen von Herrn Bengelsdorf ausgepflanzt werden. Helga Müller und Dethleff machten die Rote-Rüben-Beete sauber. Weiter umgegraben wurden von Roggenbau und Hawranke (?) und endlich auch einmal von Mädchen, nämlich Goebel, Seiffert, Kiecheben + Schmidt mussten nachher auch die angenehme Arbeit des Mist-Ausbreitens verrichten. Herr Bengelsdorf und ich, der nur eine halbe Stunde half, schnürten Beete ab.

11. Mai 1952
Auszug aus der Innungsversammlung
3. Die Arbeitstage wurden wie folgt festgesetzt:
Montag: Eichler, Kepler, Roh, Kasper.
Dienstag: Kossert, Hellwig, Sabine, Plaue, Fiedje, Eisvogel.
Mittwoch: Hiller, Kuhblick, Panje, Kalle, Bolko, Karin.
Donnerstag:
Freitag: Lupus, Lau, Evers, Petrus.
Der Strich unter dem Namen zeigt den Gerätewart (bzw. seinen Vertreter) des Tages an.

16.05.2018: Die Eisheiligen sind vorbei, wir haben Tomaten, Paprikas, Gurken und Chilis draussen gepflanzt. Blütenfamilienbeet gepflegt.

4. XI. 54
Im letzten Halbjahr (ab Juni) wurden in der Gärtnerei geerntet und zum Teil abgeliefert:
ca. 1000 Stck Kopfsalat
ca. 100 kg Johannisbeeren
ca. 3500 kg Rhabarber
100 kg (genau 99,5 kg) Pfirsiche
311 kg grüne Bohnen
ca. 900 kg Äpfel
ca. 1800 kg Kürbis
563 kg Tomaten
193 kg Gurken
Ausserdem div. Mengen Kräuter, Porree, Sellerie, Schnitlauch etc.
Fehlernte durch die nasse und kühle Witterung bei Kirschen und Pflaumen. Auch die niedrigen Erträge bei Gurken u. Tomaten sind auf das Wetter zurückzuführen.
Totalschaden durch Kaninchenfraß:
5000 Stck vorgezogene Frühkohlrabipflanzen
600 Stck “ Früh-Wirsingkohlpflanzen
600 Stck “ Früh-Weisskohlpflanzen
1200 Stck Grünkohlpflanzen
2000 Stck Rosenkohlpflanzen
Landwirtschaft erntete außer dem Grünfutter nach ca. 75 dz Kartoffeln, ca. 9 dz Roggen und ca. 2,5 dz Mais

19.04.2020: Die Tomaten im Gewächshaus erreichen 1 m Höhe. Die Bio-Erde ohne Torf ist voller pilzlicher Erreger. Etwas ein Drittel der Tomatenpflanzen verfaulen. Den Rest topfe ich um in eine abgemagerte Erde mit Sand und Kokossubstrat.
Der Fuchs hat sich in die Voliere gegraben und 4 Enten getötet. Die Leichen hat er liegen gelassen.

05.11.2020: Zeit für eine Inventur, was wir alles konserviert haben:
Art
Methode
Menge g
Anzahl Stck
Mangold
gefroren / verarbeitet
125
52
Schnittlauch
gehackt/gefroren
25
4
Rosenblütengelee
eingekocht
220
9
Zitronenverbene
getrocknet
20
2

Dazu kommen noch div. andere Gewürze, Rosenblütensirup, Holunderblütensirup, Chilies getrocknet und zu Sauce verarbeitet, Johannisbeergelee, Apfelgelee, Quittengelee und -sirup, eingelegte Gurken, Scharfenberger Chili-Sauce, Kornelkirsch-Konfitüre, fermentierte Zucchini und tiefgefrorene Kräuter und Mangold. Die Mengen sind eher bescheiden, alles, was produziert wird, sind Kostproben.
Ein Teil der Produkte wurde an die Lehrküche, René Wiese abgegeben.

Es hat sich sehr viel geändert in 100 Jahren. Es gibt einen gewaltigen Fortschritt in Technik, Kultur und Gesellschaft. Die Daseinsberechtigung der Gärtnerei steht auf tönernen Füßen, es sind zu wenige Schülerinnen und Schüler in der Gärtnerei. Dadurch, dass das Schuljahr nicht dem Gartenjahr entspricht, fangen die Schülerinnen und Schüler mit der Ernte an und hören mit der Entfernung von unerwünschten Aufwuchs (1923: Unkraut) auf. Von den Früchten ihrer Arbeit haben die wenigsten etwas. Die wenigsten Schülerinnen und Schüler sehe ich im nächsten Schuljahr nicht wieder. Ich frage, warum kommst du nicht mehr in die Gärtnerei? Die Antwort lautet meist, ‚ich wollte mal was anderes machen‘.
Ich bin glücklich, am Ende meines Berufslebens noch ein mal so eine Aufgabe erfüllen zu dürfen. Fachliche Herausforderungen haben mich noch nie abgeschreckt, aber diese hier ist zweifelsohne eine der Größten.
So bleibt noch der Wunsch, dass sich für eine der ‚Inselspezifika‘, wie es im schulinternen Curriculum heißt, ein durchgehendes Schulfach findet. Möge es fächerübergreifend sein oder als Wahlpflichtfach, Hauptsache, der Betrieb der Gärtnerei hat eine fundierte Berechtigung.
Für diesen Beitrag konnten nur sehr wenige Quellen genutzt werden. Pandemiebedingt wurden praktisch seit März 2020 alle Termine in den Archiven gestrichen. Vielleicht gibt es irgendwann die Möglichkeit, eine eigene Chronik der Gärtnerei zu erstellen. Der Redaktionsschluß der Festschrift schloß eine weitere Recherche aus.
Thomas Lamp (Gärtner seit Aug. 2017)